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In Haus und Garten von Dagmar Frühwald

 

Haus Rotkäppchen

Mit dem Schiff nach Amerika. Oder ein Haus mit Garten. Vor dieser Entscheidung stand damals meine schöne Urgroßmutter. Ihre Wahl sowie die Großzügigkeit ihres Mannes ermöglichten das „Haus Rotkäppchen“ und seinen Garten. 

Als ich lesen konnte, staunte ich über den Namen auf dem Haus meiner Urgroßmutter. In schönen hellen Lettern auf dunkelrotem Untergrund. „Rotkäppchen“. Ein Märchen. Rotkäppchen brach auf um seiner Großmutter stärkende Gaben zu bringen, verließ entgegen der Warnung seiner Mutter den ihm bekannten Weg. Seine Unschuld machte es verführbar für die Angebote des Schicksals.

Wenn ich an meinen ersten Besuch im Haus Rotkäppchen denke, höre ich den dumpfen Klang des Löffels in der mit süßem Schlagobers und roten Erdbeeren vollen Porzellanschüssel. Erdbeeren aus dem großen Erdbeerbeet meiner Urgroßmutter. Manchmal, wenn ich an sie denke, sehe ich meine Urgroßmutter hinter ihrem großen alten Kinderwagen, in dem sie all das, was nicht in ihrem Garten wuchs aus dem Ort nach Hause schob. An solchen Tagen kehrte ihr großer Kater im „Haus Rotkäppchen“ ein. Für eine Schale Milch, einen Hühnerkopf und zwei Hühnerfüße. Spitze Zähne, rote Zunge, flache Ohren. Immer fauchte er sobald er mich sah. An Streicheln war nicht zu denken.

Manchmal wartete ich auf der Bank unten an der Straßenecke auf die Rückkehr meiner Urgroßmutter. „Jeden Tag ist er mit der Straßenbahn nach Wien gefahren.“ Meine Urgroßmutter sprach von ihrem Mann. „Damals gab es eine Haltestelle unten am Goldeck*1. Hier, auf dieser Bank hat er sich immer ausgeruht. Auf dieser Bank ist er auch gestorben. Ein Herzanfall. Kurz nach dem Krieg.“ Ich wusste über den Mann meiner Urgroßmutter, dass er nicht der Vater meines Großvaters ist. Wusste, dass er viele Sprachen sprach, in vielen Ländern Mandeln und Kaffee einkaufte, sofort schmeckte, wenn auch nur einmal in einer Teekanne Kaffee serviert worden war und, dass er eine Ruderpartie von Triest nach Venedig unternommen hatte.

Damals auf der Bank an der Straßenecke erfuhr ich auch, dass meine Urgroßmutter und ihr Mann einen gemeinsamen Sohn hatten, den Herbert. Dass er geboren wurde, als mein Großvater bereits erwachsen war, dass er während des Krieges im Haus versteckt wurde. Als ich hörte warum, wurde mir klar, weshalb auf dem Dachboden ein alter Rollstuhl mit Sitzfläche aus Rohrgeflecht stand und weshalb ich in einem weißen großen eisernen Krankenbett auf Rädern schlief.

„Im Haus wohnten russische Offiziere. Nie ist mir etwas passiert. Die Russen mögen Kinder und ich hatte ein krankes Kind.“ Ich begriff nicht wirklich, wovon meine Urgroßmutter sprach. Auch nicht, weshalb ihr Vater den Vater meines Großvaters aus dem Haus jagte, als sie diesen heiraten wollte. Aber ich verstand, meine Urgroßmutterwollte lieber hier und nicht im Haus mit mir darüber sprechen. Irgendwie, so fand ich damals, war ihr altes Leben durcheinander. Doch jetzt war es in Ordnung. Sie war meine Uroma, hatte einen schönen Garten und viele Gemüsebeete. Nur ihre Katze war nicht nett, sondern hatte Angst vor Menschen und war gefährlich.  

im Parterre

Meine Urgroßmutter lebte im Parterre und schlief dort im ehemaligen Speisezimmer des Hauses. Fast alles in diesem Zimmer ist aus Zirbenholz. Der Tisch, die Kredenz, das Ruhebett, auch die Wandverkleidung. Meine Urgroßmutter kochte auf einem alten großen gemauerten Herd. Nach ihren Einkäufen roch es meist nach Gemüse-Hühnersuppe.Der Eingang zu den von ihr bewohnten Räumen ist der Haupteingang des Hauses. Während der Sommerwochen wartete ich oft ungeduldig darauf, dass die große schwere Holztür  sich endlich öffnet. Meine Urgroßmutter schlief gerne lange. Meist war es bereits mittags, wenn sie auf der Veranda ihr Frühstücksbrot aß. Eine dicke Scheibe Brot bestrich sie mit Butter, Topfen und Marillenmarmelade, schnitt sie in Streifen, stach dann mit spitzem Messer zu und ließ die Brotbissen im Mund verschwinden. So ganz anders als meine Großmutter. Auch sie aß gerne Topfenbrote mit Marmelade. Doch bei ihr im ersten Stock hätte ein Messer niemals den Weg zum Mund finden dürfen.

In den Sommernächten der frühen siebziger, im Zirbenholzzimmer, lernte ich, dass es sich sehr gut sehr lange schlafen lässt, wenn man bis zu Bundeshymne und Testbild vor dem Fernsehapparat durchhält.

   

Keller

„Die Hühner mussten jeden Tag über die hohen Stufen aus dem Keller hinaus getragen werden,“ erzählte mein Großvater. „Tageslicht sahen sie meist erst ab Mittag. Schon damals schlief deine Urgroßmutter gerne lange.“ Dieses Damals war lange bevor ich auf die Welt kam. Ich lernte weder die Hühner, noch die zahme Gans kennen, wegen der mein Großvater auf sein Stück vom weihnachtlichen Gänsebraten verzichtet hatte.

Der Hausplan von 1932 wies die Kellerräume keineswegs als Hühnerstall, sondern  zum Lagern von Obst und Gemüse und als Waschküche aus. Das bestätigen der Lehmboden, der Bodenabfluss, das Betonbecken und der Kupferkessel noch heute.

in der Mansarde

Doch nicht nur ein Großteil des Kellers war dem Hausplan zur Folge der Wäschepflege gewidmet. Ebenso die sogenannte Mansarde, die Dachetage. Der größte Raum dort war Roll- und Bügelraum, das Kabinett die Wäschekammer und die Dachkammer der Trockenboden. DassFrauen früher viel Zeit für Gestaltung und Pflege von Textilien aufbringen mussten, wusste ich bereits als Kind. Meine Großmutter hat mir über ihr Hochzeitskissen für den Großvater erzählt. Im Jahr zwischen Verlobung und Heirat hatte sie viele Stunden mit dem Besticken dieses Kissens verbracht, hatte während dieser Zeit wohl viel an meinen Großvater, an das künftige Leben mit ihm gedacht. Dennoch staunte ich, dass, laut Plan, ein Drittel des Hauses der Wäschepflege zugedacht war.

Diese Raumordnung war jedoch bald von Leben und Weltgeschehen überholt worden. Die Kriegsjahre verbrachte der Halbbruder meines Großvaters im Zimmer unter dem Dach. Später schlief dort mein Großvater. Manchmal blickten wir vom Balkon des ehemaligen „Roll- und Bügelraums“ durch sein selbstgebautes Fernrohr auf den Saturnring und in Mondkrater.

Im 1. Stock                                                                                                                                                         

Als Sommergäste schliefen meine Mutter und ich über einige Jahre in einem großen alten Doppelbett aus Birkenholz im ersten Stock. Laut Plan von 1932 war der Raum in dem das Bett stand tatsächlich als Schlafzimmer gedacht. Nacht für Nacht qualifizierte meine Mutter sich als Gelsenjägerin. Von Sesseln aus erreichte sie mit einer Fliegenklatsche die  Zimmerdecke. Jeden Morgen zeugten neue Blutspritzer auf heller Wandfarbe vom Erfolg ihres nächtlichen Einsatzes. Ich war froh, als mein Großvater, lange noch bevor Ähnliches im Handel erhältlich war, gerahmte Gelsengitter konstruiert hatte. Mittlerweile, Jahrzehnte sind seither vergangen, kann ich bei offener Balkontüre schlafen. Nicht nur die Bienen, auch die Gelsen sind wenige geworden.                                                  

In den siebziger Jahren wurde der kleine Raum neben dem Schlafzimmer zum modernsten des Hauses. Eine Einbauküche fand hier Platz. Mit fließendem Wasser, einem Warmwasserhahn und einem modernen Gasherd. Endlich musste meine Großmutter Koch- und Abwaschwasser nicht mehr durchs Haus tragen. Seither wurde jedes Jahr Mitte Juli Marillenmarmelade eingekocht. Eine entsprechende Menge dieses fruchtigen Brotaufstrichs war wichtig für all die morgendlichen Topfenbrote und als Weihnachtsgabe für meinen schwer zubeschenkenden Vater. Am Morgen des Marilleneinkochtages saß meine Großmutter bereits sehr früh auf dem Balkon. Vor sich auf dem Tisch drei große weiße Schüsseln. Zwei leer, eine gefüllt mit reifen Marillen. Mit scharfem Obstmesser trennte sie die Früchte von den Kernen. War die volle Schüssel leer, waren Fruchtfleisch und Kerne auf die anderen beiden aufgeteilt, folgte das Prozedere in der Küche.An einem solchen Tag war in der Küche wirklich alles sauber. Die Geschirrtücher waren ausgekocht und Einmachgläser, Deckel, Kochlöffel wie Greifzange blieben vonbloßen Händen unberührt, bis die Marmelade abgefüllt und in Gläsern verschlossen war. Diesen Sommertag im Juli verbrachte ich sehr gerne mit meiner Großmutter in der heißen Küche. Und die an der Topfwandzerplatzten Marmeladeblasen schmeckten noch besser als die Marmelade selbst.   

Als Sommerfrische geplant, standen Öfen im „Haus Rotkäppchen“ nur in den drei größten Zimmern. Im Winter blieb das Haus unbewohnt und unbeheizt. Seine beiden Balkone schauen Richtung Nordosten. So bleibt die Temperatur im Haus sogar während sehr heißer Tage angenehm. Die drei älteren Häuser der Straße sind nach Nordosten ausgerichtet. Die drei neueren Häuser, für ein Leben mit Winter und Vergnügen an Sommersonne nach Südwesten.

Solange die Welt noch war wie zur Zeit seiner Planung stand das „Haus Rotkäppchen“ während der kalten Jahreszeit leer. Doch schon bald nach Kriegsbeginn änderte sich dies. Die Menschen, die früher hier den Sommer genossen hatten, überdauerten im „Haus Rotkäppchen“ nun auch den Winter. Und so blieb es über viele Jahrzehnte. Bis Leben und Sterben seiner Bewohner das Haus sich selbst überließ.

Jetzt lebe ich hier. Nicht nur als Feriengast wie damals in Kindertagen. Eine medizinische Diagnose, ein neues Körpergefühl, die Eigenständigkeit meiner nun erwachsenen Tochter haben mich hierher gebracht. Hier stört es nicht, dass ich Dinge langsam mache. Im Haus Rotkäppchen ist Zeit. Die Zeit von jetzt und die von ehedem.

Ganz gegenständlich stellt sich die Vergangenheit zur Verfügung. So teilen sich alte Dreh- und weniger alte Kippschalter die Wände. Licht, es lässt sich aufdrehen, es lässt sich einschalten.Beides ist möglich im „Haus Rotkäppchen“.

Möbel, Dinge und Gegenstände

Ein weißer Holzschrank mit arabesk ausgesparten, mit Glas hinterlegten Flächen, weißes Verandamobiliar meiner Urgroßmutter, das schwere Liegesofa beschichtet mit Wurzelholzfunier. Einrichtungsgegenstände, die ich aus meiner Kindheit kenne. Auf den beiden schweren Holzstühlen mit Armlehnen, die ich mit meinem neuen Körpergefühl so sehr zu schätzen weiß, sitzen eine zarte Frau mit grauweißem Haar und ein Mann mit weißem Schnurrbart, beide schwarz gekleidet. Das Foto zeigt meine Ururgroßeltern zu Besuch bei ihrer Tochter.

Im „Haus Rotkäppchen“ hat manch Möbelstück weit länger als eine Menschenzeit überdauert, sind Gegenstände über deren anfängliche Attraktivität hinweg aufbewahrt worden und Schriftstücke über ihre Aktualität hinaus erhalten geblieben.   

Schöne Vasen, Rauchutensilien, die Plattenkameras meines Großvaters, seine vielen Kassetten mit Radioaufnahmen, alte Briefe, die Kuckucksuhr meiner Urgroßmutter, Geschäftskorrespondenz ihres Ehemannes über die Qualität von Mandeln und Kaffee, Gehstöcke, Kalender mit Tagesnotizen meiner Großmutter, Kalender mit Tagesnotizen meiner Mutter, Hochzeitsfotos, Urlaubskarten, Landkarten aus dem ersten Weltkrieg mit seit langem ungültigen Grenzen, das ausziehbare Hörrohr aus Messing, das feine Garn in fünf Farbnuancen zum Stopfen wertvoller Nylon- und Perlonstrümpfe, die von meinem Ururgroßvater gebaute, in unglimpflichen Momenten beschädigte Geige und dieser Regenschirm mit Jagdhundkopfgriff, dessen schnappender, bei Daumendruck herabfallender Unterkiefer, es einem Fräulein ermöglicht en passant ein Spitzentaschentuch fallen zulassen.

Immer noch bewähren sich die elektrischen Haushaltsgeräte ohne „geplante Obsoleszenz“. Den Standmixer aus den fünfziger, den Stabmixer aus den siebziger Jahren habe ich in Verwendung. Mühelos werden sie weitere Betriebsjahre überdauern. Auf den dekorativen Sahnequirl der frühen dreißiger Jahre sowie auf die Hand betriebene Taschenlampe werde ich bei Stromausfall zurückgreifen.

Manch ein Gegenstand aus der Sammlung lang aufbewahrter Dinge nimmt nun einen Ehrenplatz ein. So das Teeservice meiner Großmutter. Schwer erreichbar steht es in der Küche auf dem obersten Regal. Vielleicht wurde nie aus einer seiner Tassen getrunken, vielleicht von keinem seiner Dessertteller gegessen. Eingewickelt in Papier, verpackt in Karton war es zunächst über Jahre auf Wanderschaft gewesen um dann über Jahrzehnte in Kellern zu ruhen. Als Kind gelang mir in seltenen Momenten zwei, drei Mal der Blick auf die Kanne, auf eine der Tassen, einen der Teller. Was ich sah gefiel mir. Strenge Formen, kräftige Farben. Meiner Großmutter hatte dieses Service auf den ersten Blick gefallen. Mehrmals kam sie an der Auslage amKu’dammin Berlin vorbei. Aber es war einfach zu teuer. Bis zu dem Tag an dem die ersten Bomben auf Berlin fielen. Das gesamte Inventar wurde zum Abverkauf freigegeben. Meine Großmutter erstand das Service, verpackte es, und anstatt in ihm meinen Gästen Tee anzubieten, erzähle ich seine Geschichte.

*1

https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/Robert_Schlumberger_von_Goldeck

Robert Alwin Schlumberger Edler von Goldeck (* 12. September 1814 in Stuttgart; † 13. Juli 1879 in Vöslau, Niederösterreich) war ein österreichischer Sekthersteller und Unternehmer.

In Haus und Garten                     von Dagmar Frühwald   

 

Der Garten

Die Geometrie der beiden alten Buchsbäume war schlampig geworden. Aus den dichten Zaunhecken ragten kräftige Stämme. Das Gras wuchs zu Füßen hoher Wiesenhalme.     Er war lange Zeit sich selbst überlassen gewesen, der Garten um das „Haus Rotkäppchen“.  Als ich kam, um zu bleiben, teilten Kultur- und Wildpflanzen sich Länge, Breite und Höhe des Gartens. So ist es auch noch heute. Doch kenne ich indes die Namen der Bäume, die den Büschen entwachsen sind, weiß um die Vielfalt der Korbblütler, welche die hohe Wiese schmücken.

„Dieser Garten hat noch seine alte Struktur. Er ist nicht kaputt renoviert“, stellte der Freund einer Freundin, – Spezialist für sanfte Sanierung alter Häuser -, fest und erklärte, „So ein Garten hebt den Wert eines Hauses.“ Ein alter Garten hebt den Wert eines Hauses; davon hatte ich bisher noch nicht gehört, doch fielen mir die freudigen Worte einer Spaziergängerin zu ihrer Freundin ein. „Dieser Garten ist beinahe wie der Garten meiner Großmutter.“ Die Spaziergängerinwar stehen geblieben und blickte durch das Torgitter. Was hatte ihre Erinnerung wachgerufen? Waren es die kleinen knorrigen Apfelbäume oder die beiden zu großen Quadern gewachsenen Buchsbäume? War es der Weg zum Brunnen mit verrosteter Handpumpe oder dieser, alten Gärten eigene, Gleichklang von Werden und Vergehen?

Kindheit

 

Der Frühling bringt Blumen  

der Sommer den Klee*1

Als Kind erlebte ich das Blühen der Primeln, der Veilchen und Himmelschlüssel im Garten um das „Haus Rotkäppchen nur selten. Endlich, kurz nach Ferienbeginn, fand ich zwischen den dunkelrosa Blüten des Wiesenkleesseine vierfiedrigen Glücksblätter und erntete im wohlgehüteten Erdbeerbeet meiner Urgroßmutterletzte süße Früchte. Meine Urgroßmutter lehrte mich, dass diese Beeren am besten, gebettet auf einem ihrer großen Blätter, reif und rot werden. Täglich arrangierte sie sie auf ihren grünen Unterlagen.

Die Sommerwelt der Erwachsenen im und um das „Haus Rotkäppchen“ gefiel mir. Alle erfreuten sich ihrer Tätigkeiten in Haus und Garten.

Auch ich fand eine mir wichtigeAufgabe: Insekten. Insekten zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Gabe zur Metamorphose, ihre Existenz unter, auf und über der Erde; bei einigen innerhalb eines Lebens.Ich überlegte, ob Schmetterlinge sich ihres Daseins als Raupe zurückerinnern, ob ein Käfer, nach all den Jahren als Engerling, sich im Flug des Geruchs der Erde entsinnt. Immer wieder erlebte ich in Haus und Garten die Verletzlichkeit dieser Wesen und fasste den Entschluss ihnen beizustehen. Versorgte flugunfähigehungrige Schmetterlinge mit reifen Früchten oder Honigwasser, rollte mit einem dünnen Stäbchen den Rüssel geschwächter Tiere aus,um sie die nährende Süße erreichen zu lassen. Durch unerwartet tiefe Temperaturen flugunfähig gewordene Bienen, Hummeln und Wespen trug ich ins warme Zimmer. Käfer mit aufgeblähten Bäuchen schwammen unter meiner Aufsicht in kühlem Kamillentee und verletzte Insekten schützte ich vor Übergriffen durch Ameisen. Ameisensoldaten wiederum befreite ich mit Pinzette und Lupe von den Kieferzangen eines verendeten Gegners. Die größte Herausforderung jedoch bestand darin,meine Schutzbefohlenen vor im Haus aufgestellten Ameisenfallen und dem Einsatz von Vandalspray zu bewahren.

Der Herbst bringt die Trauben,

der Winter den Schnee*2

 

Meine Urgroßmutter hatte ihren Weingarten an eine Weinbauernfamilie verpachtet und solange mein Jahr noch nicht in Schul- und Ferienzeit eingeteilt war, nahm ich Teil an der Traubenernte. Heute frage ich mich, ob meine Erinnerung an damals tatsächlich auf die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeht. Die Erwachsenen schnitten die reifen Trauben mit großen Scheren von den Reben und warfen sie in hölzerne Butten auf ihrem Rücken. Wir Kinder legten die mit kleinen Scheren abgeschnittenen Trauben in kleine Kübel und mehrmals täglich zog, voll beladen, der Pferdwagen von dannen. Anders als in den umliegenden Weingärten standen die Rebzeilen im Weingarten meiner Urgroßmutter noch eng beieinander, hatte der Traktor die Arbeit von Mensch, Tier und Pflug noch nicht übernommen. So lernte ich den großen alten hageren Mann und das riesige Pferd kennen, die jedes Jahr zum Pflügen kamen. Ich durfte sie auf ihrem Weg durch die Rebenreihen begleiten. Über „Hü“ und „Hott“ verstand ich, dass Mann und Pferd darauf achten mussten, die Mitte der schmalen Spur nicht zu verlassen. „Früher, als er jung war, war er wild der Poldi“, so hieß das Pferd, „und hat nach mir getreten“, verriet mir der große alte Mann, „Da hab ich mir sein Bein gepackt, mich drauf g‘setzt und nicht mehr losg‘lassen; bis er stand.“ „Na ja“, überlegte ich, „wenn man immer wieder hört, dass Baron Münchhausenauf einer fliegenden Kanonenkugel geritten ist, kann man schon auf so eine Idee kommen. Warum nicht?“ Auch von dem Igel, der jeden Abend auf ein paar Schlucke aus der Bierflasche wartete und anschließend betrunken durch den Pferdestall lief, erfuhr ich. Nach getaner Arbeit sprach der Mann immer mit meinem Großvater. Meist ging es um seine Zeit bei der Kavallerie im 1. Weltkrieg. „Zuerst das Pferd und dann die Frau!“, hörte ich ihn meinem Großvater erklären. An die Antwort meines Großvaters auf meine Frage,was damit gemeint sei, kann ich mich leider nicht erinnern.

Jetzt

Als Kind hatte ich Gartenarbeit als freud- und sinnvolle Tätigkeit kennen gelernt. Heute werden mir meine gärtnerischen Ambitionen mitunter suspekt. Beim Rupfen des blühenden Wildkrauts, das mir bereits ein halbes Jahr zuvor an gleicher Stelle begegnet ist, wenn Ameisen versuchen ihre vom Rechen frei gedeckte Brut zu retten, spätestens jedoch beim Winden eines Regenwurms unter einer von mir geführten Schaufel, dann wird diese Ahnung vom möglichen Unsinn meines Tuns zur Gewissheit.

Früher führte der sommerliche Weg von Bushaltestelle zu Haus entlang trockener Getreidefelder und in heißem Licht flimmernder Wiesen, war das Eintreffen im schattigen Garten meiner Urgroßmutter erfrischender Kontrast. Heute sind die Wiesen und Felder von damals rasenbedeckten Gärten gewichen, fehlt der Hitze ihr Flimmern über Ähren, fehlen die Kornblumen neben den Wegwarten.

„Ein Garten ist ein abgegrenztes StückLand, in dem Pflanzen oder Tiere gepflegt werden.“ Erster Satz bei Wikipediaunter entsprechendem Stichwort.Bedürfen nicht gerade all die in kultivierten Gärten ins Abseits gedrängte Pflanzen und Tiere einer speziellen Pflege? Könnte mein Garten ihnen diese bieten? Könnte ich so vielleicht an mein Bemühen von Damals anknüpfen den in Bedrängnis geratenen Insekten beistehen?

Eine Möglichkeit in diesem Sinne wäre es gewähren zu lassen. Mehr zu lassen als zu tun. „Manche Pflanze, manches Insekt benötigt sechs Jahre und länger für seine Entwicklung“, erfuhr ich vor einigen Jahren in einem Seminar zum Thema „Essbare Wildkräuter am Straßenrand“. Eine Information, die mir bei meinem Vorhaben desGewähren-Lassens, weiterhalf. Mit dem Heu der über den Sommer gewachsenen, im Herbst geschnittenen langen Wiesenstängel umgrenzte ich eine kreisrunde Fläche. Zumindest diese sollte von Gartenarbeit unberührt bleiben. In ihrer Mitte ein abgestorbener Kirschbaum.Von Efeu überwachsen ist er im Winter der einzige grün belaubte Baum und wahrscheinlich das auffälligste Gehölz im Garten. Nur er bewahrt während der starken Herbst- und Frühjahrsstürme regloses Geäst.

Als ökologisch besonders wertvoll, als Biotopholz, wird solch stehendes Totholz bezeichnet.

Wespen, Bienen und Käfer sind auf Totholz angewiesen. … Hirschkäfer benötigen abgestorbene Bäume, ihre morschen Wurzeln, denn sie sind für die Entwicklung ihrer bis zu acht Jahren unter der Erde verweilenden Larven nötig.“ Diese Internetinformation und vor allem die seit wenigen Jahren mit prachtvollem Geweih im Garten fliegenden Hirschkäfer bestätigen mich in meiner Entscheidung den toten Kirschbaum stehen zu lassen.

„Für Marienkäfer“, so gelesen in einem Fachartikel, „stellt Totholz ein Winterquartier dar“. Doch viele der im Garten um das „Haus Rotkäppchen“ angesiedelten Marienkäfer folgen, anstatt totes Geäst aufzusuchen, einer recht jungen Tradition ihrer Vorfahren. An späten warmen Herbsttagen zeichnen sie sich zu hunderten gegen den strahlend blauen Himmel ab, landen als fliegende Punkte an den Hausmauern und erreichen, durch Fensterrahmen und Fensterflügel hindurch, Vorhangwellen und Zimmerecken. Sie kommen und sie bleiben, um zu überwintern.                                                                                       Beinahe gleichzeitig mit ihnen suchen die Kieferwanzen das Haus auf. Diese Insekten blicken auf eine noch kürzere Tradition im „Haus Rotkäppchen“ zurück. Erst in den 1950ger Jahren sind sie aus dem Westen Nordamerikas an die Ostküste gelangt, haben dann auf Schiffen den Atlantik überquert, und sind um 1999 in Europa eingetroffen. Weder gefährlich noch schädlich stören sie mich kaum. Solange sie wohlauf sind. Denn sind sie gestresst oder sterben eines unnatürlichen Todes,erinnert, in einem ihnen gewidmeten Artikel sehr wohlwollend beschrieben, der von ihnen abgesonderte Geruch an Kiefernnadeln, Äpfel oder Zitronen. Manchmal überlege ich, wie wohl die Indianer mit dieser hohen Zahl an seltsam duftenden Wintergästen umgegangen sind. Recht wenige von ihnen überdauern die langen Wintermonate. Diejenigen die überleben, fliegen im Frühjahr die Fichte links oder die Tanne rechts vom „Haus Rotkäppchen“ an. 

Beide Bäume, Fichte wie Tanne, wurden 1939 von meiner Mutter gepflanzt. Die Fichte wächst auf dem Grab des damals verstorbenen Hundes meiner Urgroßmutter. Der muss wohl recht einem Wolf geglichen haben, denn er und meine in jener Zeit siebenjährige Mutter, die zu allem Überfluss gerne eine rote Kopfbedeckung trug, wurden von Vorbeigehenden für die Namensgeber des Hauses gehalten.

Hoch oben zwischen den Ästen der Fichte saß eines Tages meine damals zehnjährige Tochter Valerie. Auf halber Höhe des Baumes. Gut siebzig Jahre nach seiner Pflanzung bedeutete dies, in Höhe der Dachtraufe. Ihr Vaterhatte sie zum untersten Ast gehoben, erfuhr ich nach ausgestandenem Schrecken. Von dort aus hätten ihr die spiralig um den Stamm wachsenden Äste den Weg nach oben gewiesen. „Ich bin, meinte Valerie, „den Baum gegen den Uhrzeigersinn hinauf- und im Uhrzeigersinn hinab geklettert.“           Höher noch als der Wipfel der Fichte ragt die Krone der Tanne. Manche schätzen ihr Alter auf weit mehr als hundert Jahre. „Mindestens“, so hörte ich unlängst einen Spaziergänger sagen, „vierhundert Jahre“. Als Trojatanne, die sie ist, kann sie sogar doppelt so alt werden und nach archäologischen Erkenntnissen könnte, sollte es dieses gegeben haben, das Trojanische Pferdaus dem Holz einer solchen Tanne gefertigt worden sein. Die Trojatanneneben dem „Haus Rotkäppchen“ zählt nun bereits über achtzigLenze, ist um die vierzig Meter hoch und wäre als Weihnachtsbaum für den Wiener Christkindlmarkt somit bereits zu groß.

Anders als meiner Tochter, die so gerne auf hohe Bäume kletterte, gefiel mir als Kind die Nähe zum Boden. Wie sehr bedauerte ich, mich mit jedem Jahr weiter und weiter von Schneckenhäusern, drei-, vier-, oder fünf- blättrigen Kleeblättern, Pflanzensamen, schillernden Käferflügeln, Insekteneiern und so vielen anderen wunderbaren Winzigkeiten zu entfernen. Heute bringt mich meine Schwierigkeit lange zu stehen dem Universum kleiner Dinge wieder näher. Im Garten aufgestellte niedrige Hocker ermöglichen mir ein Sehen ähnlich dem in Kindertagen. Sitzend nun,betrachte ich Ausschnitte der Erdoberfläche. Dies Beobachten geht einher mit Abwarten und mitGewähren -Lassen. Welche Tiere kommen, welche verweilen, welche Pflanzen treffen ein und für welchen Standort entscheiden sie sich?

Alle zwei Jahre krönen die weißen Dolden der wilden Karotte die hohe Sommerwieseum das „Haus Rotkäppchen“und gewähren Einblick in die Finesse der Pflanze. Ein kleiner schwarzer Punkt, die eine einzige dunkle Blüte, täuscht vor ein kleiner Käfer zu sein. Signalisiert den ringsum fliegenden Insekten teilzuhaben am Wohlgeschmack dieses Blütenarrangements. Vergangenen Sommer blieben Stängel und Blätter der Wilden Karottein Bodennähe und das einjährige Berufkraut schmückte die hohe Wiese. Auf den ersten Blick erinnert es an ein sehr hoch gewachsenes Gänseblümchen. Im siebzehnten Jahrhundert als Zierpflanze in Europa angekommen, ist es alsbald verwildert und nunmehr weit verbreitet. In seiner ursprünglichen HeimatNordamerika seit jeher als Heilpflanze bekannt, hatte es auch hier bei Krankheit seine Bedeutung. Sein Name Berufkraut geht auf das Wort „berufen“ zurück; berufen im Sinne von „beschreien, behexen, verfluchen“ und kam bei Leiden als Folge schwarzer Magie zum Einsatz. Heute findet es kaum Beachtung, wird von vielen Gartenbesitzern gar als Unkraut wahrgenommen..

Berufkraut und Wilde Karotte teilen sich die Wiese um das „Haus Rotkäppchen“ mit  grünen Akteuren wie Beifuß, Wegerichen und Brennnesseln. An Menschen, die von ihnen wissen, sind sie jederzeit bereit ihre heilsame Wirkung zu entfalten. Nach einem Saftmix aus Gartenkräutern stellt sich mir die Frage, weshalb ich, um wach zu bleiben und fidel zu werden, auf Kaffee zurückgreife. Sind die Wiesenpflanzen grün, teile ich meine Vorliebe für sie mit Raupen und Schnecken, tragen sie Blüten, ruht mein Blick auf sie nebenSchmetterlingen und Hummeln. Jeweils eine der zahlreichen, von einer Wiesenpflanze gewählten Stelle erkläre ich zu ihrem Ehrenplatz. Manche bleibt, andere wählen im folgenden Jahr einen anderen Ort für ihr Stelldichein.                                                                                                                 „Bäume setzen“, eine Gartenfreundin sprach es aus, „ist eine Investition in die Zukunft.“

In den letzten Jahren brachten Stürme manch morschen Ast der alten Obstbäume zu Fall. Die Zeit ist gekommen an die Früchte späterer Jahre zu denken und junge Bäume zu pflanzen. Die Vorliebe meiner Tochter für süße Birnen sowie die Erinnerung an die von meiner Großmutter zitierten Textzeilen über HerrnRibbek von Ribbek aus Haveland*2, „Der wußte genau, was damals er tat, Als um eine Birn‘ ins Grab er bat“,ließen mich einen Birnbaum setzen. Dann brachte Valerie zwei im Müllraum eines Supermarktes entsorgte Apfelbäume in den Garten. Einer von ihnen trägt nach zwei heißen Sommern bereits dreizehn große rote Äpfel. Auf Empfehlung eines Freundes aus Afghanistan fanden zwei kleine Maulbeerbäume den Weg in den Garten. Das winterharte Granatapfelbäumchen soll eines Tages die Sehnsucht nach den Früchten Mexikos erfüllen und den Bezug zur Region hält einBadener Weingartenpfirsich.Die neu gepflanzten Bäumchen stehen unweit der Bäume, die mir schon als Kind als alt und morsch vorgestellt worden waren. Beide Marillenbäume, der hohle Nussbaum, die kleinen längs des Mittelwegs gepflanzten Apfelbäume, sie alle waren bald nach Fertigstellung des Hauses gepflanzt worden. Und solange meine Urgroßmutter lebte, war keinem von ihnen ein Ast abgesägt worden. Sie untersagte es; strikt. Meine Urgroßmutter hielt nichts vom Verjüngen der Bäume durch Zurückschneiden ihrer Äste, veranlasste stattdessen in Wald und Flur nach Astgabeln zu suchen. Mit ihnen wurden die schweren Äste der Obstbäume gestützt. Mir gefiel diese Garteninstallation. Und als, viele Jahre später, ich die entsprechenden Bilder des Malers Dali sah, erkannte ich sie wieder, die vegetativen Stehhilfen, die es ermöglichen Balance zu finden. Ich verstand meine Urgroßmutter, verstand, dass sie die gewachsene Form der Bäume bewahren wollte. Und immer noch ernte ich die Früchte der alten Bäume. Das Prinzip „Zu Belassen“bewährt sich im Garten um das „Haus Rotkäppchen“ seit Langem.

*1Es war eine Mutter die hatte vier Kinder … Kinderlied/Volkslied

 

*2Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland von T, Fontane 1889 https://de.wikipedia.org/wiki/Herr_von_Ribbeck_auf_Ribbeck_im_Havelland

Youtube;Herr von Ribbeck auf Ribbeck/Junge Dichter und Denker      ,